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Kontroversen führen und aushalten

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Prof.in Dr.in Isabelle Ihring; Foto: privat

Das rassismuskritische Bildungsfestival „Dear White People“ spricht sich gegen jede Form von Diskriminierung aus und bringt dies öffentlich zur Diskussion: jährlich für eine Woche, 2021 zum dritten Mal, in Freiburg vor Ort und ebenso digital. Die Evangelische Hochschule Freiburg ist zum ersten Mal Kooperationspartnerin der Aktionswoche.

„DWP 2021 ist an dem Anspruch, Räume für kontroverse Dialoge zu öffnen, und dem Motto, das Schweigen zu brechen, auseinandergebrochen“, stellt Prof.in Dr.in Isabelle Ihring abschließend fest. Sie ist Professorin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule und Mitglied des Festival-Kuratoriums.

Das Kuratorium hatte ein Podium zur Lage im Nahen Osten zwischen Israel und Palästina geplant, dazu eingeladen und dies letztlich wieder abgesagt. Die Beweggründe hierfür haben die Kuratoriumsmitglieder öffentlich gemacht. Ihre Entscheidungen werden inzwischen bundesweit und darüber hinaus in unterschiedlichen Medien kommentiert, bewertet und diskutiert.

Rektorin Prof.in Dr.in Renate Kirchhoff: „Wir haben uns als Hochschule für die Unterstützung von „Dear White People“ (DWP) entschieden. Denn wir wollen vielfältige Gelegenheiten schaffen, bei denen Menschen unterschiedlichster Überzeugungen aufeinandertreffen und sich miteinander im Disput und im Dialog üben. Das verläuft oft nicht sanft und geordnet – warum sollte es auch. Es geht ja darum, die jeweilige Gegenposition zu verstehen, nicht sie zwangsläufig auch einzunehmen. Dazu gehört, die eigene Position zur Disposition zu stellen, sie dann zu differenzieren oder auch beizubehalten. Und ebenso gehört dazu, das Risiko des Nichtgelingens einzugehen – bei aller Sorgfalt in der Planung.“

Ob ein Diskurs gut verlaufe, sei sicher auch eine Frage der Haltung, führt Kirchhoff weiter aus. „Den direkten Umgang miteinander kann und muss man lernen: Dem oder der anderen, die einen ganz unterschiedlichen Zugang zur Realität hat, nicht mit Abwertung und Ausgrenzung zu begegnen, sondern mit Respekt und dem Bemühen, auch die andere Position nachzuvollziehen“, ergänzt die Rektorin.

Professorin Kirchhoff: „Als Kooperationspartner von DWP verfolgen wir die aktuelle öffentliche Diskussion um das Podium zur Nahost-Thematik und möchten diese auch weiterhin öffentlich nachvollziehbar machen.“

Das DWP-Kuratorium hat in einer ausführlichen Stellungnahme seine Positionen dargelegt, die nachfolgend veröffentlicht werden.

Öffentliche Stellungnahme von Isabelle Ihring stellvertretend für das Kuratorium von Dear White People vom 15.06.20201

„Dear White People…“ – Ein Rückblick auf ein Festival unter Druck

Als Mitglied des Kuratoriums des Festivals „Dear White People…“ möchte ich im Rückblick auf ein stark kritisiertes Festival eingehen und ein wenig zu den Prozessen und dem jetzigen Stand informieren.

„Dear White People…“ ist ein rassismuskritisches Bildungsfestival, das sich gegen jede Form von Diskriminierung ausspricht: gegen Antisemitismus, anti-asiatischen Rassismus, antimuslimischen Rassismus, antipalästinensischen Rassismus, keinen Rassismus gegen Sintizze und Romnja, keinen anti-Schwarzen Rassismus und keine weiteren Formen von Rassismus und Diskriminierung. Das Kuratorium der Veranstaltung ist mehrheitlich aus BIPoC* zusammengesetzt.

Das Festival hat in diesem Jahr zum dritten Mal stattgefunden und zielt darauf ab, eine Plattform für gesellschaftlich marginalisierte Themen zu schaffen wie der Verschränkung von Kolonialismus und Rassismus, dem Zusammenhang zwischen ökologischer Krise und der Ausbeutung des Globalen Südens und der systemischen Struktur von (Mehrfach-) Diskriminierungen in unserer Gesellschaft. Mit diesem Angebot soll sowohl die Vernetzung von BIPoC*, Black, indigenous und People of Color gestärkt werden, als auch weiße Personen sensibilisieren und dabei unterstützen, Verbündete im Kampf gegen rassistische Strukturen und menschenverachtende Ideologien zu werden.

Unter dem diesjährigen Titel „Let’s break the silence“ wurde dazu aufgerufen, sich zu der Systematik von Rassismus, postkolonialer Theorien, Intersektionen von Diskriminierungsformen, kolonialen Kontinuitäten in der Entwicklungszusammenarbeit, Empowerment und Powersharing zu informieren, zu organisieren und aktiv zu werden. Dafür wurde ein vielseitiges Programm gestaltet, das aus insgesamt 44 Veranstaltungen bestand. Gemäß unserer Überzeugung wurde bei der Wahl der Referent*innen und Künstler*innen ebenfalls versucht die festgelegte Quotierung von 75% BIPoC* und FLINTA*, Frauen, Lesben, Inter, Trans und Agender Personen zu realisieren. Unter dem diesjährigen Motto sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Schweigen zu diskriminierenden Verhältnissen diese erhält und festigt, worauf die Bewegung Black Lives Matter gerade nach dem Mord an George Floyd ebenfalls deutlich hingewiesen hat – Wer schweigt, stimmt zu. Diesem Motto folgend haben wir Räume eröffnet, um ein Sprechen über intersektional miteinander verwobenen Diskriminierungsverhältnissen hör- und sichtbar zu machen sowie auch die Möglichkeit geboten, gemeinsam in einen Dialog zu treten. Es wurden unterschiedlich positionierte Menschen eingeladen, die in Gesprächen, Diskussionen, künstlerischen Beiträgen zum Ausdruck bringen sollten, wie sich diese Ungleichheitsverhältnisse auf sie als diskriminierte Subjekte auswirken. Gleichzeitig gehören diese Diskriminierungsverhältnisse zu einer gesellschaftlichen Struktur, die systematisch dafür sorgt, Menschen abzuwerten, zu entrechten und zu entmenschlichen.

In diesem Rahmen haben wir auch entschieden, mit der Organisation Palästina Spricht-Freiburg zu kooperieren, wofür wir sehr viel Kritik bekamen, weil dieser Gruppe vorgeworfen wird, antisemitisch zu sein. Im Rahmen des Prozesses der Aus- und Wiedereinladung von Palestina Spricht-Freiburg haben uns aus ganz Deutschland unterschiedliche jüdische Stimmen erreicht, die deutlich machen, dass es „die einheitliche jüdische Position“ nicht gibt. Auch hier existiert Heterogenität, auch im Blick auf die Arbeit von Palästina Spricht-Freiburg.

Wir haben uns in diesem Prozess fachliche Beratung vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin eingeholt, das zu den weltweit bedeutendsten Einrichtungen seiner Art zählt, interdisziplinäre Grundlagenforschung zu Antisemitismus in seinen vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen in Vergangenheit und Gegenwart durchführt und zu der Leitungsgruppe der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (Jerusalem Declaration on Antisemitism, kurz JDA) gehört. Neben der Beratung und der Vielzahl an Mails, die die Ausladung von Palästina spricht Freiburg kritisiert haben, haben wir nach etlichen Sondersitzungen und vielen Gesprächen, selbstverständlich auch mit Vertretern von Palästina spricht-Freiburg, die Wiedereinladung der Gruppe entschieden. Ihr Vortrag zu anti-palästinensischem Rassismus wurde wieder ins Programm aufgenommen und im Rahmen der Veranstaltung von Ramsy Kilani gehalten. Gleichzeitig wurde entschieden, eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wie kann in Deutschland ein Sprechen zur Situation in Israel und Palästina stattfinden und ein Raum für Dialog ermöglicht werden?“ organisiert. Diese Prozesse mit allen Statements und Begründungen kann online nachgelesen werden.

Die Entscheidung, die Gruppe wieder einzuladen, fiel am 03. Juni 21, vier Tage vor Beginn des Festivals. Mit dieser Entscheidung ging einher, dass einzelne Kooperationspartner*innen und Referent*innen wegfielen. Im Raum stand außerdem, dass Fördergelder gestrichen werden und uns erreichten etliche Statements von Kooperationspartner*innen, die mangelnde Transparenz kritisierten und mit der Entscheidung nicht konform gingen. Der Start des Festivals kam somit zusammen mit massivem Druck, der Beobachtung des Festivals und einem zeitnahen Reagieren auf die Statements/Mails. Dies hat uns sehr viel Zeit und Energie gekostet, die an der Organisation des Festivals gefehlt hat. Das Festival war bereits in vollem Gange, doch konnten wir uns nicht mit der nötigen Konzentration an die erforderlichen Absprachen mit den Referent*innen machen, sowie wie wir uns auch nicht ausreichend um die im Hintergrund ablaufenden Prozesse zur Gestaltung der Veranstaltungen kümmern konnten. Darüber gingen viele Dinge unter, es gab Koordinations- und Kommunikationsprobleme, die am Ende dazu führten, dass die so wichtige Podiumsdiskussion zu einem Sprechen zur Situation in Israel und Palästina in Deutschland abgesagt werden musste.

Die Referentin, die Palästina Spricht-Freiburg vorgeschlagen hat, hatte uns Anfang der Woche gebeten den Kontakt zur Moderation herzustellen, da sie noch wichtige Dinge im Hinblick auf die Podiumsdiskussion klären wollte. Diese Bitte ging aufgrund der geschilderten Zeitnot und dem Druck unter und kam daher erst am Freitag, einem Tag vor der Podiumsdiskussion, zustande. In diesem Gespräch wurde der Moderatorin dieser Diskussion gesagt, dass die palästinensische Referentin unter diesem Framing mit den anwesenden Mitdiskutant*innen nicht sprechen wird, weil sie dann automatisch als ein Gegenüber konstruiert wird, also als Antisemitin, die sich dann rechtfertigen muss, nicht antisemitisch zu sein. Diese Absage hat uns kalt erwischt, da wir einen solidarischen Schulterschluss dringend gebraucht hätten.

Wir wollen nicht verleugnen, dass wir zu diesem Zeitpunkt zu wenig Kapazitäten hatten, um gleichzeitig auf den Druck zu reagieren und das Festival am Laufen zu halten. Ab Freitagabend wurden dann Telefonate geführt und versucht, das Podium mit einer weiteren Person zu besetzen. Als wir eine Person gefunden hatten, die jüdisch positioniert auf palästinensische Perspektiven eingehen sollte, wurde Rücksprache mit der Moderation gehalten. In diesem Gespräch wurde deutlich, dass sie sich mit der Neubesetzung nicht wohl fühlte, gerade auch im Hinblick auf die Erwartungen des Publikums ein Podium zu moderieren, das ausschließlich mit jüdischen Stimmen besetzt war, auch weil sie befürchtete, dass das dem Thema, also einem Sprechen über Israel/Palästina, nicht gerecht werden könne. Zudem hatte sie sich auf eine andere Zusammensetzung des Podiums vorbereitet und sie angesichts der Zeitnot und der Brisanz, die das Thema mitbringt, nicht mit einem unguten Gefühl in diese Diskussion gehen wollte. Hinzu kam, dass wir unsicher waren, ob die neue Konstellation überhaupt im Sinne der noch verbliebenen beiden Referent*innen gewesen wäre, was wir aber nicht mehr nachfragen konnten, weil es schon spät war. Somit hatten wir am Freitagabend 21.30 Uhr keine Moderation und keine Ideen mehr, wie das Podium aufgefangen werden könnte, weshalb wir um 22 Uhr entschieden, die Veranstaltung abzusagen.

Das Festival “Dear White People…” ist an dem Anspruch, Räume für kontroverse Dialoge zu öffnen, und dem Motto, das Schweigen zu brechen, auseinandergebrochen. Wir haben versucht, das heiße Eisen anzufassen und in eine Form zu bringen, in der wir gehofft haben, einen konstruktiven Dialog möglich zu machen. In den nächsten Tagen und Wochen werden Gespräche mit allen Beteiligten, Referent*innen wie Kooperationspartner*innen initiiert. Gleichzeitig werden wir mit den Konsequenzen umgehen müssen, die nun folgen werden.

Stellvertretend für das Kuratorium von „Dear White People…“
Prof.in Dr.in Isabelle Ihring

 

 

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