© Marc Doradzillo

Rüdiger, Wolfgang

„Es gibt keinen ­machtfreien Raum“

Gespräch mit Björn Kraus über Machtverhältnisse im Unterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2021 , Seite 12

Übe ich im Unterricht Macht aus, auch wenn ich das nicht will? Und kann es einen Unterricht ohne Macht überhaupt geben? Wolfgang Rüdiger sprach mit Björn Kraus, Professor für Wissen­schaft Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie Supervisor und Coach in eigener Praxis, über „Destruktive“ und „Instruktive Macht“ und weshalb es so wichtig ist, das eigene Handeln als Lehrperson ständig zu reflektieren.

Lieber Herr Kraus, Machtaspekte durchziehen Ausbildung und Berufsleben von Musikerinnen und Musikern – und manchmal leuchten sie dort auf, wo man sie gar nicht vermutet, wie folgendes Beispiel zeigt. Nach den Ferien berichtet eine fünfjährige Schülerin begeistert ihrer Mutter: „Jetzt gehe ich noch viel lieber in den Geigenunterricht und habe gar keine Angst mehr, denn meine Lehrerin ist inzwischen kleiner geworden.“ Repräsentieren Lehrpersonen per se Macht? Und ist auch in der Äußerung der Schülerin ein Machtmotiv wirksam?
Die Beschreibung Ihres Settings macht sehr gut deutlich, dass man, wenn man über Macht spricht, zunächst einmal klären muss, was man unter dem Begriff versteht. Und das kann sehr unterschiedlich ausfallen. Angesichts der vielfältigen Machttheorien beschränke ich mich bei meiner Antwort auf mein relational-konstruk­tivistisches Machtverständnis. Wenn wir also nach der Macht von Musikpädagoginnen und -pädagogen fragen, so würde ich bei Max Webers viel zitierter Definition anfangen: „Macht ist die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.“
Das setzt eine Menge voraus, unter anderem, dass wir erst dann von Macht reden, wenn es um einander widersprechende Willen geht. Gerade dies ist in pädagogischen Settings möglichst zu vermeiden. Normalerweise versuchen wir, mit Ermöglichungen, Unterstützungen, Überzeugung und vor allem mit Vereinbarungen und Ähnlichem zu arbeiten und nicht mit der Durchsetzung des Willens des Pädagogen gegen den Willen der Lernenden – obwohl wir in der Pädagogik nicht gänzlich ohne Macht auskommen.
Banales Beispiel: Als mein Sohn noch kleiner war, habe ich nicht immer zugelassen, dass er seinen Willen durchsetzt. Dem könnte man entgegenhalten, dass er ein Individuum ist, das sich entfalten soll – aber wenn dieses dreijährige Individuum die Idee hat, vor einen Bus zu laufen, dann werde ich nicht erst in Verhandlungen treten und versuchen, ihn zu überzeugen, sondern ich unterbinde diese Idee und verhindere, dass er vor den Bus läuft. Es mag also auch in pädagogischen Settings gute Gründe für die Ausübung von Macht geben – insofern geht es auch nicht per se um die Vermeidung von Macht, sondern zunächst um die verantwortungsvolle Reflexion von Machtverhältnissen.
Aus einer relational-konstruktivistischen Perspektive ist es wichtig, dass Macht nicht so etwas wie ein Besitz ist, den man hat und den man jemandem wegnehmen oder jemand anderem geben kann. Sondern Macht ist etwas, das man in sozialen Interaktionen beobachten kann, und es ist immer die Frage, wer beobachtet, dass Macht vorliegt. Wer entscheidet denn mit Blick auf eine Situation, in der Lehrende auf Lernende treffen, welche Willen vorliegen? Das kann die Perspektive des Schülers sein, der hier subjektiv einen ganz anderen Willen hat, der sich aber ohne viel Aufhebens dem von ihm unterstellten Willen der Pädagogin unterwirft. Also auch wenn aus der Perspektive der Unterrichtenden gar keine Macht ausgeübt werden soll, kann es sein, dass sich die Schülerinnen und Schüler dem vermeintlichen Willen und der vermeintlichen Macht der Lehrpersonen ausgeliefert erleben. Solche Fragen müssten reflektiert werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, dass Musikunterricht wie jeder andere Unterricht auch kein machtfreier Raum ist.

Noch einmal zurück zum eingangs beschriebenen Fall: Wie würden Sie denn das Verhältnis der Fünfjährigen zu der als viel größer und mächtiger erfahrenen Lehrperson charakterisieren, die alles andere möchte, als Macht ausüben, ja ihren Unterricht genau umgekehrt auf Einfühlung, Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit gründet?
Das Entscheidende ist auch hier der Einzelfall, und das ist vorwegnehmend auch schon eine entscheidende Botschaft: Wenn man verantwortlich unterrichten möchte, kommt man nicht umhin, Fragen der Macht zu reflektieren. Damit man zum einen die Möglichkeiten, die man hat, verantwortungsvoll nutzt, also nicht unterhalb seiner Möglichkeiten bleibt; und zum anderen reflektiert, ab wann man Macht benutzt, die man verantwortlich besser nicht benutzen würde. Nun mag einem von dem Kind Macht zugeschrieben werden, die philosophisch gesprochen keine tatsächlich existierende Macht ist, aber dennoch ist sie sozial wirksam; und dann kann ich mich nicht dahinter verstecken, dass das Kind mir ja keine Macht hätte zuschreiben müssen.
Im Übrigen kann man nicht sagen, die Größe der Akteure oder das Alter sind per se entscheidend. Das spielt zwar eine Rolle, entscheidender aber ist die psychische Verfasstheit des Kindes. Und die ist manchmal unterschiedlicher, als man es auf den ersten Blick erwarten mag.

Habe ich denn auch Macht, ohne dass mir diese zugesprochen wird?
Welche Möglichkeiten habe ich denn, auf einen Schüler einzuwirken, um meinen Willen gegen seinen durchzusetzen? Ich kann ihm nur androhen: „Wenn du künftig, etwa in der Handhabung des Instruments, nicht meinem Willen folgst, sondern deinen eigenen Willen durchsetzt, dann werde ich dich nicht mehr unterrichten!“ Habe ich also die Macht, das durchzusetzen? Konstruktivistisch gesehen: Nein – es gibt eine unvorhersehbare Menge von Variablen, die eine solche Machteinwirkung am Eigensinn des Schülers scheitern lassen können.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2021.